Science and Technology Studies – Reflexive Praktiken

 

Bei den Science and Technology Studies (STS, dt. Wissenschafts- und Technikforschung) handelt es sich um eine Forschungsrichtung, die sich im Laufe der 1970er Jahre zunächst v.a. in England, Frankreich, den Niederlanden und den USA entwickelte. Ihre empirischen Erkenntnisse und deren theoretische Implikationen werden jedoch  mittlerweile auch hierzulande verstärkt wahrgenommen, die „Klassiker“ der STS nunmehr auch im deutschsprachigen Forschungsbetrieb auf breiterer Ebene rezipiert.

FotoDie Gründe dafür, dass die Forschungsarbeiten aus dem Bereich der STS in immer stärkerem Maße auch in der Soziologie, der Ethnologie und der Kulturanthropologie, aber auch in den Kultur-, Medien und Informationswissenschaften aufgegriffen werden, sind vermutlich vielfältig und ineinander verschachtelt. Angeführt werden könnte hier beispielsweise der Umstand, dass die zunächst als Science Studies gestartete Forschungs-Bewegung ihr Augenmerk ab etwa Mitte der 1980er Jahre auf den Bereich der Technik ausweitete und deren Forschungsresultate so nicht nur für die Wissenssoziologie, sondern auch für all jene Disziplinen relevant wurden, welche sich i.w.S. mit Technik befassen. Wie sich aktuell zeigt, stoßen die Wissensbestände der STS und die innerhalb des Feldes angewandten Forschungsmethoden zunehmend und folgerichtig in jenen Forschungsbereichen auf Interesse, in denen eine Beschäftigung mit Technik-Nutzung und technologischen Dispositiven erfolgt (z.B. Mensch-Maschine-Interaktion, Kulturtechnik-Forschung, Technikgeschichte, Medienphilosophie, Medizinsoziologie, Finanzmarktforschung etc.).

Bei aller Aufmerksamkeit, welche die STS gerade im deutschsprachigen Forschungsfeld erfährt, ist jedoch keineswegs klar, was der Ausdruck Science and Technology Studies denn nun eigentlich bezeichnet: Ein Forschungsfeld? Eine Herangehensweise oder Methode? Ein Theorie-Programm? Gar eine Disziplin? Der kleinste Nenner, auf den sich die Abkürzung STS aktuell wohl bringen lässt, ist zunächst in einer Grundeinstellung zu finden: Weder wird die kontextenthobene Geltung von wissenschaftlichem Wissen und technischen Logiken, noch werden die sozialen Strukturen schlicht vorausgesetzt, welche dieses Wissen und diese Logiken durchsetzen und verbreiten. Stattdessen werden die lokalen Prozesse und Praktiken der Produktion und Reichweiten-Erhöhung des Wissens und der Technologie (bis hin zu dessen „universaler Gültigkeit“ bzw. deren „ubiquitärer Durchsetzung“) in detaillierten empirischen (ethnographischen und historischen) Fallstudien beschrieben und analysiert.

FotoDieser gemeinsame Nenner hat sich innerhalb des STS-Feldes in kontrovers geführten Debatten im Laufe der 1990er Jahre heraus kristallisiert. Warteten die Science Studies zunächst noch mit einem sozialkonstruktivistischen Programm auf, welches den Ausgang naturwissenschaftlicher Kontroversen strikt durch soziale Faktoren erklärte (so das „Strong Programme“ der in Edinburgh angesiedelten Sociology of Scientific Knowledge/SSK), modifizierten im Laufe der Zeit immer mehr STS-ForscherInnen diese Position oder rückten gänzlich von ihr ab: Einerseits fand „Materialität“ als Komponente der beobachteten Phänomene verstärkt Berücksichtigung, andererseits wurde die „Performativität des Sozialen“ so weit in Rechnung gestellt, dass soziale Einflussgrößen nicht mehr als erklärende Apriori-Faktoren herangezogen werden konnten.

Während all dieser internen Transformationsprozesse blieb allerdings „Reflexivität“ gleichsam als Basiskategorie des STS-Feldes erhalten. Schon als David Bloor 1976 in „Knowledge and Social Imagery“ – einem der grundlegenden Werke im STS-Feld – die vier berühmten Grundprinzipien des sozialkonstruktivistischen Strong Programme anschrieb, lautete das vierte: „It would be reflexive.“ (1976, S. 5) Gemeint war damit, dass die Prinzipien des Strong Programme auf sich selbst reflexiv anwendbar sein müssten. Reflexivität ist den Forschungspraktiken der STS also schon in ihren Gründungsdokumenten eingeschrieben.  

Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit der reflexiven Rückspiegelung von Forschungsergebnissen auf die eigenen Theoriebildungen, Methodologien und Methodiken im STS-Feld eine Tradition erfunden und mit einer gewissen Konstanz ausgestattet wurde. Ende der 1980er wurde den Debatten um die aus dieser Rückspiegelung zu ziehenden Konsequenzen ein ganzer Band gewidmet. In der Einleitung zu „Knowledge and Reflexivity“ schrieben Steve Woolgar und Malcom Ashmore: „ ... the growing confidence with which scholars have argued that natural scientific knowledge is a social construct, is now accompanied by growing interest in the consequences of applying  this same argument to knowledge generated by the social sciences. (…) Reactions to the issue of reflexivity are varied, ranging from the construal of reflexivitiy as a 'problem' to the notion that reflexivity may provide an occassion for exploring new ways of longstanding questions of knowledge and epistemology.“(1988, S. 1, 2) Ashmore selbst befasste sich daraufhin mit der Reflexivitäts-Thematik im Rahmen eines ganzen Buches („The Reflexive Thesis“, 1989).

Bei den STS-Forschungspraktiken handelt es sich also in gewisser Weise „traditionell“ um reflexive Praktiken, und Veröffentlichungen jüngeren Datums schreiben diese „Tradition“ fort (so z.B: Annemarie Mol in „The Body Multiple“ 2002). Diese ermöglichte es dem Forschungsfeld immer wieder aufs Neue sich selbst, d.h. die bearbeiteten Probleme und Thematiken, die Methodiken sowie theoretische Annahmen neu zu erfinden. In den letzten Jahren wurde zum einen der empirische Fokus auf die Praktiken der Ökonomie und Finanzmärkte, der Medizin und der Life Sciences, auf Digital- und Nanotechnologien, auf Neurobiologie, bildgebende Verfahren und Visualisierungsstrategien ausgeweitet; zum anderen wird die Methodologie-Diskussion – beispielsweise von VertreterInnen der Actor-Network-Theory (John Law) und der Social Worlds Analysis (Adele Clarke und Susan Leigh Star) – quasi als Dauereinrichtung weitergeführt; und auf Ebene der theoretischen Auseinandersetzung ist das Aufkommen einer Debatte um „relationale Ontologien“ (womit auf von Menschen und Dingen gemeinsam hervorgebrachte Welt/en – einschließlich des Wissens um diese – rekurriert wird), ein verstärktes Bemühen um prozessuale Forschungsperspektiven und ein stärkeres In-Rechnung-Stellen der „Flüssigkeit“ der erforschten Phänomene zu beobachten.

Im Rahmen des Projektes „Reflexive Praktiken“ stellen die teilnehmenden WissenschaftlerInnen ihre eigene Arbeit in die reflexive Tradition der STS und setzen die Frage nach dem Potential der Science and Technology Studies neu auf die Tagesordnung. Das Vorhaben erstreckt sich dabei auf mehrere Dimensionen. Zum einen geht es um eine Beschäftigung mit der eigenen Forschungspraxis und mit deren politischen Implikationen: Was heißt es, STS-Forschung zu betreiben, welche Bedeutung hat das Kürzel „STS“ für ForscherInnen, die ihre Arbeit im Forschungsfeld der STS verorten und dieses Feld gleichzeitig permanent neu erfinden? Doch zielt das Projekt indes auch darauf ab, das Potential der STS für verschiedene Disziplinen (z.B. Medienwissenschaft, Bildwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Wissenssoziologie, Anthropologie, um nur einige zu nennen) beziehungsweise den Beitrag anderer Forschungsfelder für die STS kenntlich zu machen. Das Projekt will also keine schulbildenden Grenzen nachziehen, sondern stellt ganz im Gegenteil den Versuch dar, ein Forum zu bieten, das es ForscherInnen aus verschiedenen Feldern und Disziplinen verstärkt ermöglichen soll, das Potential der STS reflexiv auszuloten.

Glücklicherweise lassen sich an verschiedenen Orten innerhalb des deutschsprachigen Wissenschaftsbetriebs Initiativen beobachten, die STS hierzulande verstärkt zu etablieren. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, diese Bewegung zu unterstützen und ForscherInnen zusammen zu bringen, die ebenfalls in diese Richtung arbeiten wollen, um so deren Vernetzung zu fördern. Auf diese Weise soll ein Beitrag dazu geleistet werden, das Interesse an den STS in Deutschland weiter zu vergrößern. Dies scheint uns vor allem vor Hintergrund der Tatsache dringlich, dass mit den STS auch in der kommenden Dekade zu rechnen sein wird. Stellt man in Rechnung, dass viele Menschen ihren Alltag mit einer gefühlten stärkeren Durchdringung durch Wissenschaft und Technik konfrontiert sehen, scheint das analytische Potential der STS schließlich auch gesellschaftspolitisch von hoher Relevanz.

Wir möchten daher alle Interessierten ermutigen, sich gemeinsam mit uns das kritische Potential der Science and Technology Studies zu Nutze zu machen, nach deren Leistungsfähigkeit für unterschiedliche Forschungs-Gegenstände und -Zugänge zu fragen – und so reflexive Praktiken zu entwickeln.

Wissenschaftliche Leitung: Katharina Kinder-Kurlanda

Workshop, 8.-9.11.2010, GEW Hessen, Frankfurt/M.

Reflexive Praktiken

Die empirische Fundierung erzeugten Wissens, die Ausdifferenzierung der durch die STS bearbeiteten Gegenstandsfelder sowie der Variantenreichtum ihrer Forschungsperspektiven lassen deutlich werden, dass die Frage danach, was die STS sein und was sie leisten könnten, worin ihr Potenzial besteht und wohin sie weiter entwickelt werden könnten oder sollten, am besten gestellt werden kann, indem danach gefragt wird, wie man die STS zur Anwendung bringt: wie kann der "Werkzeugkasten" der STS fruchtbar gemacht werden? Und worin bestehen die "Tools" der STS?

Tagungsprogramm

Workshop, 2.-3.12.2011, TU Darmstadt

In/Stabilitäten - Prozessualität in der Wissenschafts- und Technikforschung

Die Arbeiten, die in den letzten gut 30 Jahren im Bereich der Science and Technology Studies entstanden sind, haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das Verständnis von Stabilität und Instabilität in Bezug auf Objekte und Subjekte einer kritischen Revision zu unterziehen. In bewusster Abwendung von sozialkonstruktivistischen Ansätzen der Wissenschaftsforschung wurde versucht, den jeweiligen Untersuchungsgegenstand nicht in einen stabilen sozialen Kontext einzustellen, um von dort aus Erklärungen für das Handeln der Akteure abzuleiten, sondern gerade die Koproduktion von content und context zu betonen. Damit verschob sich nicht nur die Perspektive weg von unilinearen und groß angelegten Kausalzusammenhängen (der soziale Kontext, das Subjekt) hin zu immer kleinteiligeren Settings, in denen sich alle Positionen – Aussagen, Konzepte, Objekte, Subjekte – relational und epistemologisch symmetrisch zueinander ausbilden; zudem wurde auch die Gültigkeitsdauer dieser neuen ‚unreinen‘ Verbindungen radikal herabgestuft. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf örtlich sowie zeitlich höchst ‚punktualisierte‘ Anordnungen.

Tagungsprogramm